Die Aufgabe einer ausgeglichenen Stellung durch die schwedische Legende Pia Cramling in einer kürzlich gespielten Partie beim Skolkovo Frauen Grand Prix gegen Alexandra Kosteniuk inspirierte chess24-Autor FM Joachim Iglesias, einen zweiteiligen Artikel zu schreiben. Er enthält eine Sammlung diverser Aufgaben und Remisangebote zu den absolut ungünstigsten Momenten.
"Noch nie wurde eine Partie durch Aufgeben gewonnen", das postulierte bereits der französische Schachmeister Savielly Tartakower, der den Titel des Großmeisters bei dessen Einführung durch die FIDE in 1950 erhielt. Tartakower ist in die Geschichte eingegangen durch seine Partien, sein berühmtes Bréviaire des Echecs (“Das Gebetsbuch des Schachs”), mit dem mehr als eine Generation von Schachspielern aufgewachsen ist und natürlich insbesondere durch seine "Tartakowerismen". Man sagt ihm nach, der Vater der Orang-Utan-Eröffnung (1.b4) und der Katalanischen Eröffnung zu sein. Auch für seinen Spruch "Der Sieger einer Partie ist derjenige, der den vorletzten Fehler begeht" ist er bekannt. In dieser zweigeteilten Serie werden wir daher den letzten Fehler unter die Lupe nehmen. Und zwar den ultimativen Fehler, der sich nicht etwa durch einen schlechten Zug auszeichnet, sondern durch die Weigerung weiterzuspielen und die Partie mit der Aufgabe oder einem Remis durch Übereinkunft zu beenden.
1. Aufgabe in ausgeglichener Stellung
Beginnen wir mit der Partie Cramling-Kosteniuk wie in der Einführung angerissen. Die russische Großmeisterin hatte gerade mit 34...Da1 den Sa6 attackiert, der auch nicht mehr verteidigt werden kann. Die Schwedin gab auf und übersah, dass nach 35.b4! Dxsa6 36.bxc5 das materielle Gleichgewicht wiederhergestellt wird und die Stellung ausgeglichen ist.
Zufälligerweise würde uach 35.Lf4!? die Partie am Laufen halten: 35...Dxa6 36.Td2 und Schwarz muss zu 36...Lxf4! 37.Dxa6 Lxd4 mit Vorteil greifen, nur eben nicht 36...Td8 37.Txd6! und Weiß stünde sogar besser!
Giri spürte, dass sich Sam unwohl fühlte und brachte mit 45.b6!? einen Bluff. Die Stellung ist so oder so remis und auch dieser Zug stellt Schwarz im Prinzip vor keine Probleme. Er muss lediglich 45...Kd6 46.Kg4 Kd7 47.Kxh3 Kc8 spielen und selbst nach 48.Lf4 sehen wir eine bekannte Festung: Kommt der weiße König zu nah, reklamiert Schwarz auf Patt, was sowohl mit einem schwarzen König auf a8 als auch auf c8 funktioniert! Es ist erstaunlich, dass ein 2700+ Spieler diese Festung nicht kannte oder sich an sie während einer Partie zumindest nicht dran erinnern konnte. Sam gab hier auf!
Svidler kommentierte damals wie folgt (und seine eigenen Abenteuer werden wir auch in wenigen Augenblicken begutachten könnten):
Eine schöne psychologische Berechnung von Anish.... aber offensichtlich eine sehr herzzerreißende Erfahrung für Sam, mit der ich sehr vertraut bin, nachdem ich in ausgeglichener Stellung bereits einmal aufgab. Die eine Partie, in der ich in einer komplett unentschiedenen Stellung aufgab, war in Wijk, obwohl ich auch einige andere dumme Dinge getan habe. Ich habe in Gewinnstellung Remis angeboten. Ich weiß, wie schrecklich das Gefühl ist, und ich fühle mit Sam. Das wird eine sehr bittere Pille sein, die er schlucken muss.
Selbst nach Ankunft auf einem anderen Kontinent war Sam noch gezeichnet!
"Tu mir einen Gefallen und gib nie wieder eine Remis-Stellung auf" - ein Grenzkontrolleur beim Stempeln meines Passes.
Halbfinale, World Cup 2005. Nach einem Remis in der ersten klassischen Partie gab es in der zweiten dieses ungleichfarbige Läuferendspiel. Etienne spielte gerade 50...La7 und gab die Partie auf, ohne auf Levons Antwort zu warten. Die Stellung sieht auch nach einem typischen Beispiel dafür aus, wie man ungleichfarbige Läuferendspiele gewinnt: der h3-Läufer deckt den f-Bauern und verhindert gleichzeitig das Marschieren des schwarzen h-Bauern im Einklang mit dem Prinzip der einen Diagonale. Weiß muss nur noch den König nach b7 bringen, a6-a7 spielen, den Läufer einsammeln und dann zum Königsflügel zurückkehren. Problem: Der weiße König wird niemals b7 erreichen, da Schwarz den eigenen König auf d7 positionieren kann, um das zu verhindern!
Nach 50…La7 könnte man sich folgende Variante gut vorstellen: 51.Kf4 h5! 52.Ke4 Ke7! 53.Kd5 Kd7! 54.f6+ Ke8:
Und die Stellung ist remis, weil der weiße Läufer nicht gleichzeitig den f-Bauern decken und den h-Bauern am Vormarsch hindern kann. Spielt Weiß Le6 und holt sich dann den schwarzen Läufer mit Kb7 und a6-a7 ab, hat Schwarz Zeit zu ...h4-h3, lenkt den Läufer damit ab und gewinnt den verbliebenen weißen Bauern.
Big Vlad hatte gerade 49.Lb7 gespielt und nun gab der Star des chess24-Kommentatorenteams einfach auf. Nach dem einzigen Zug 49…Le1, dem einzigen Zug, der den Bauern auf a5 verteidigt, hat Weiß auf den ersten Blick einen klaren Gewinnplan: c5 und Lh1 spielen, mit dem König nach h6 rennen und den Bauern gewinnen, im notwendigen Moment mal c6 spielen. Weil der h6-Bauer fällt, wird Schwarz den g-Bauern irgendwann mit ...Lh4 verteidigen müssen. Der weiße König marschiert dann wieder zum a5-Bauern und Schwarz wird sich irgendwann in einem tödlichen Zugzwang befinden, weil einerseits der Läufer a5 decken muss, er andererseits aber auch h4 gegen das Bauernopfer h3-h4 im Auge behalten muss. Denn nach diesem Bauernopfer würde Weiß einen entscheidenden zweiten Freibauern bilden können.
All das klingt absolut überzeugend... doch Schwarz muss den a5-Bauern gar nicht decken! Nach 49…Lg1! hält Schwarz den Läufer auf der a7-g1-Diagonalen, während der König die Aufgabe hat, die weißen Damenflügelbauern im Zaum zu halten. Auch ein Schwenken auf den Königsflügel kann der schwarze Monarch durch eigenen Einsatz verhindern. Ergebnis: "Ein totes Remis."
Magnus Carlsen, damals 16 Jahre alt, hatte gerade 64.Dg6 gegen die damalige Nummer eins der Welt, Veselin Topalov, gespielt. Das junge Wunderkind droht, den g7-Springer mit Schach zu gewinnen dank 65.Dh7+ Kf8 66.Dh8+ Ke7 67.Dxg7+. Der ehemalige FIDE-Weltmeister gab auf, ohne das "Racheschach" 64...Dd5+ zu spielen. Tatsächlich hat Schwarz nach z.B. 65.f3 Dd2+ 66.Kh3 keine Tricks mehr und Weiß droht immer noch Dh7+ als auch ein Matt in zwei Zügen mittels Df7+ und Qf8#! Pech für den Bulgaren, dass der zukünftigte Weltmeister ihm nach der Aufgabe die wundersame Rettung offenbarte: 64...Dd5+! 65.f3 e5!, wonach die Dame die sensiblen Felder f7 und g8 bestreicht. 66.Dh7+ Kf8 67.Dh8+ könnte dann mit 67...Dg8 beantwortet werden.
Diese Partie ist ein ganz besonderer Fall: Im Stechen des Kandidatenmatchs Jussupow-Ivanchuk musste Ivanchuk mit Schwarz zwingend gewinnen, um den Stand des Matchs auszugleichen. Nach Db3+ gewinnt Jussupow den b5-Bauern und bot daher Remis an. Aber Ivanchuk gab stattdessen auf und verließ den Spielsaal. Der Schiedsrichter, der Ivanchuks Aufgabe hörte, wollte einen Gewinn für Weiß notieren, doch Jussupow beharrte darauf, dass der Schiedsrichter die Partie als Remis werten sollte.
Alle französischen Spieler, zumindest die ab eines gewissen Alters, wissen, dass Joël Lautier im klassischen Schach einen positiven Score gegen Garry Kasparov (+2, -1, =7) hatte. Doch dieser hätte auch durchaus ausgeglichen sein können, da nach 20.Tc7?? ein Remisangebot annahm. Stattdessen hätte er 20…c5! spielen können, was den b4-Bauern gewinnt, da 21.bxc5?? Tb8 den Läufer verlieren würde. Das geringere Übel wäre 21.b5 Tb8 mit Mehrbauern für Schwarz.
Schwarz hatte gerade 69...Kf7 gespielt und Weiß nahm das Remisangebot an. Dass die Stellung eine Festung ist, das mag man leicht glauben: Schwarz spielt nur noch ...Kf6-f7-f6 und sobald Weiß einen seiner Bauern bewegt, geht er verloren. Und falls Kxd4 Sb5+. so ginge der a-Bauer verloren. Der weiße König kann auch das Quadrat des d-Bauern nicht verlassen, da dieser sonst zur Dame gehen würde. Dennoch, es gab einen forcierten Gewinn: 70.Kxd4! Sb5+ 71.Kc5 Sxa7 72.Kb6! Sc8 73.Kc7 Se7 (73...Sa7 74.Kd7 gefolgt von h7 und f6) 74.h7! Kg7 75.f6+!
Zu diesen Remisen “aus Versehen” gibt es auch Remisen, die wie Siege sind. Das nächste Beispiel hat Geschichte geschrieben:
Euwe brauchte in der 30. Partie seines Matchs gegen Aljechin nur ein Unentschieden, um Weltmeister zu werden. Vor der Partie hatte er darauf geachtet, seinem Gegner deutlich zu machen, was selbstverständlich war: "Ich werde zu jedem Zeitpunkt dieses Spiels ein Remis akzeptieren". Im Endspiel nach 40.Tg1 und mit zwei Bauern weniger entschied Aljechin, dass es ein guter Zeitpunkt war, sich von seiner Krone zu verabschieden: "Dr. Euwe, ich nehme Ihr Remisangebot an."
Ähnliche Beispiele findet man in den letzten Partien des Kasparov-Karpov-Weltmeisterschaftsmatchs 1990 und im Kandidatenmatch Korchnoi-Petrosian 1971, wo Korchnoi, der gewinnen musste, zu seinem Gegner sagte: "Ich biete ein Unentschieden an und ansonsten gebe ich die Partie verloren" (Tigran nahm das Remis an!). Meine Lieblingsgeschichte, freiwillig Remis in einer gewonnenen Position zu machen, ist die Folgende:
Sechzig Jahre vor seinem Tod musste Pal Benko mit Schwarz in der letzten Runde des 1959er Kandidatenturniers antreten. In den fünf Partien zuvor hatte Tal alle Partien gewonnen! Nun brauchte er jedoch lediglich ein Remis, um sich für das Match gegen Botvinnik zu qualifizieren und in Absprache mit seinem Sekundanten bot Tal im zwölften Zug Remis an. Zu seiner Überraschung lehnte Benko ab! Dazu muss man sagen, dass Benko glaubte, dass Tal seine Gegner hypnotisierte und er zu glauben meinte, eine Wunderlösung dafür gefunden zu haben: Eine Sonnenbrille...
Fünf Züge später stand Benko auf Verlust.... Was dann passierte, kann man am besten mit dem Sprichwort "Erst hatte er kein Glück und dann kam auch noch Pech hinzu" beschreiben:
Schwarz spielte gerade 22…Kh8 und statt 23.Dg5!, was den Damentausch und ein Endspiel mit zwei Mehrbauern erzwingt, nahm Tal das Remis mit nach 23.Df6+ Kh7 24.Df5+.
Tal sagte im Anschluss: "Wenn ich gegen Benko gewinnen will, gewinne ich; wenn ich gegen Benko Remis spielen will, spiele ich Remis!" So qualifizierte sich Tal für das WM-Match, das er gegen Botvinnik gewinnen sollte.
Im zweiten Teil dieses Artikels sehen wir die schlimmsten aller Fehler: Aufgaben in glatt gewonnenen Stellungen.
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